Schweizer Journalisten spionieren im Netz ihre Leser aus

Screenshot: Disconnect.me-Auswertung der Tracking-Dienste auf der «Blick»-Website

In den Medien ist heute zu lesen, dass Schweizer Politiker «im Netz ihre Wähler ausspionieren» (Tages-Anzeiger) oder «ihre Wähler verkaufen» («Blick»). Gemeint sind Tracking-Dienste wie Google Analytics, die unter anderem dazu dienen, die Nutzung von Websites – normalerweise anonym – aufzuzeichnen und auszuwerten (Web Analytics).

Die Nutzung solcher Tracking-Dienste kann man durchaus kritisieren, denn es stellen sich Fragen bezüglich Datenschutz. Allerdings haben die Kritiker in den Medien zumindest teilweise vergessen, dass sie im sprichwörtlichen Glashaus sitzen, denn auch die Websites von «Blick», Tages-Anzeiger und anderen Medien verwenden zahlreiche Tracking-Dienste. Man hätte demnach genauso Schlagzeilen wie «Schweizer Journalisten spionieren im Netz ihre Wähler aus» oder «Diese Journalistin verkauft ihre Leser» formulieren können.

Tracking-Dienste auf journalistischen Website

Für den oben verlinkten «Blick»-Artikel meldet die einschlägige Software Ghostery das Tracking durch ADTECH, adwebster, cXense, DoubleClick, Facebook Connect, Google Tag Manager, Google+ Platform, NET-Metrix, Nugg.Ad, Teads, Twitter Button und Twyn.

Für den oben verlinkten Tages-Anzeiger-Artikel wird das Tracking durch ADTECH, cXense, Facebook Connect, Facebook Social Plugins, Google Adsense, Google Analytics, NET-Metrix und Twitter Button gemeldet.

Die Ghostery-Konkurrenz «Disconnect» führt für beide Websites verschiedene weitere Dritt-Dienste an, über die allenfalls auch ein Tracking stattfinden kann.

Zweierlei Massstab für Journalisten und Politiker?

Der Tages-Anzeiger rechtfertigt sich im Artikel wie folgt:

«[…] Tatsächlich arbeitet allein der ‹Tages-Anzeiger› online mit über 60 Angeboten von Drittfirmen, die der Besucher auf Anhieb nicht sieht. Er tut dies, um den Webverkehr zu messen oder zu analysieren. Doch er erklärt unter der Rubrik ‹AGB und Datenschutz› ausführlich, was mit den Nutzerdaten geschieht. So, wie es das Gesetz vorschreibt. […]»

Diese Verteidigung mag der Rechtslage entsprechen, wobei die Information in der Datenschutzrichtlinie als Teil der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) der Tages-Anzeiger-Website allerdings summarisch gehalten sind und keine ausführliche Erklärung darstellen (Screenshot). Wenn die erwähnten Tracking-Dienste aber tatsächlich so problematisch wären wie die heutigen Schlagzeilen suggerieren, würde eine versteckte Deklaration im «Kleingedruckten» nicht genügen.

Unabhängig davon sollte diskutiert werden, wieso es Journalisten offensichtlich nicht für problematisch halten, dass ihre eigenen Leserinnen und Leser «ausspioniert» und «verkauft» werden. Ein guter Grund könnte sein, dass solche Tracking-Software tatsächlich gar keine substantiierbaren Nachteile für Leserinnen und Leser hat. Aber dieser Grund würde auch für Websites von Politikern gelten … und wieso lehnt der Tages-Anzeiger in seiner Datenschutzrichtlinie jegliche Haftung sowie Verantwortung für die selbst verwendeten Tracking-Dienste ab?

«Unsere digitalen Angebote sind auf vielfältige Weise mit Funktionen und Systemen Dritter vernetzt […]. Über die Nutzung solcherart durch Dritte erhobener personenbezogener Daten haben wir keine Kontrolle und übernehmen wir keine Verantwortung oder Haftung.»

(Vielen Dank an Leser C. für seinen freundlichen Hinweis auf den «Blick»-Artikel.)

Offenlegung: Für anonyme Webanalytik auf dieser Website wird die freie Open Source-Software Piwik verwendet. Sie hat insbesondere den Vorteil, dass die erfassten Daten ausschliesslich lokal gespeichert werden.

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