«Kristallnacht-Tweet»: Bundesgericht stärkt Justizöffentlichkeit und Medienfreiheit

Foto: Toter Vogel, der auf dem Rücken liegt

Das Schweizerische Bundesgericht hat mit seinen Urteilen 1B_169/2015 und 1B_177/2015 vom 6. November 2015 unter anderem bestätigt, dass der inzwischen rechtskräftig verurteilte «Kristallnacht-Twitterer» tatsächlich als relative Person der Zeitgeschichte gilt.

Eine relative Person der Zeitgeschichte «muss sich gegenüber anderen Personen Abstriche beim Persönlichkeitsschutz gefallen lassen», zum Beispiel in der Berichterstattung in den Medien.

Medien- und prozessrechtlicher Hintergrund

In der Sache betreffen die beiden Urteile folgenden medien- und prozessrechtlichen Sachverhalt:

Zwei Zürcher Gerichtsberichterstatterinnen hatten sich gegen gerichtliche Auflagen zur Wahrung der Anonymität des damals beschuldigten «Kristallnacht-Twitterers» anlässlich der öffentlichen Gerichtsverhandlung am Bezirksgericht Uster in erster Instanz beschwert. Auf Antrag der Verteidigung hatte das Gericht den anwesenden Medienvertretern damals untersagt, den Namen und sonstige Angaben zur beschuldigten Person zu nennen, Fotos der beschuldigten Person zu veröffentlichen oder die Internet-Adresse seines Weblogs zu nennen. Bei einer Missachtung dieser Auflagen drohte eine Ordnungsbusse von bis zu 1’000 Franken.

Das Bundesgericht gelangte zum Ergebnis, dass die Auflagen allein schon mangels hinreichender Rechtsgrundlagen unzulässig waren. Auch einen schweren Eingriff in die Medienfreiheit hielt das Bundesgericht für möglich, liess die Frage aber offen. Die Akteneinsichtsverordnung der obersten Zürcher Gerichte (AEV) jedenfalls taugte nicht als Rechtsgrundlage. Ausserdem dürfen Journalisten nicht schlechter gestellt werden als das übrige Publikum an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung.

Stärkung von Justizöffentlichkeit und Medienfreiheit

Das Bundesgericht betonte aber nicht nur die Medienfreiheit, sondern auch das Prinzip der Justizöffentlichkeit sowie die damit verbundene Funktion der Medienberichterstattung über Gerichtsverhandlungen:

«[…] Für die Bürgerinnen und Bürger soll ersichtlich sein, wie die Richterinnen und Richter die ihnen vom jeweiligen Wahlkörper übertragene Verantwortung wahrnehmen, und der Grundsatz der publikumsöffentlichen Verhandlung dient ganz allgemein einer transparenten Justiztätigkeit und Rechtsfindung. Da nicht jedermann jederzeit an beliebigen Gerichtsverhandlungen teilnehmen kann, übernehmen die Medien mit ihrer Gerichtsberichterstattung insofern eine wichtige Brückenfunktion, als sie die richterliche Tätigkeit einem grösseren Publikum zugänglich machen. […]»

Das Bundesgericht konnte sich allein auf schweizerisches Verfassungsrecht abstützen und musste Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zur Meinungsfreiheit nicht prüfen.

Allerdings: «Zu viel Freiheit ist dem Bundesgericht» – so die treffende Feststellung von Anwaltskollege Konrad Jeker – «aber offenbar nicht geheuer, weshalb es noch einen väterlichen Rat nachreicht»:

«Der Wegfall der ausgesprochenen Verbote bedeutet nicht, dass die Beschwerdeführerinnen bei der Berichterstattung völlig frei waren. Sie hatten § 11 Abs. 2 AEV zu beachten, wonach die Berichterstattung auf die schutzwürdigen Interessen der Prozessparteien gebührend Rücksicht nehmen soll und jede Art unnötiger Blossstellung zu vermeiden ist […]. Bei widerrechtlicher Verletzung der Persönlichkeit drohte ihnen ausserdem eine Zivilklage des Beschwerdegegners nach Art. 28 ff. ZGB

Der erwähnte «Kristallnacht-Twitterer» schildert in seinem Weblog seine Sicht der Dinge und schreibt unter anderem:

«Ich hatte ein berechtigtes Interesse am Schutz meiner Persönlichkeitsrechte. […] Ich erachte das Urteil daher als ungerecht. In einem fairen Urteil wären auch meine berechtigten Anliegen berücksichtigt worden. Auch ich habe Rechte!»

(Auch via Neue Zürcher Zeitung und Tages-Anzeiger.)

Bild: Flickr/«elitatt», CC BY 2.0 (generisch)-Lizenz.

2 Kommentare

  1. Gemäss BGE 127 III 481 ist eine relative Person der Zeitgeschichte eine Person, die aufgrund eines aussergewöhnlichen Ereignisses in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist. Mir stellt sich die Frage ob ein Tweet als aussergewöhnliches Ereignis betrachtet werden kann. Ich meine nicht, denn es werden tagtäglich Millionen von Tweets verfasst. Das aussergewöhnliche Ereignis war wohl eher die persönlichkeitsverletzende Medienberichterstattung über den Tweet und dessen Urheber. Dass diese wiederum eine namentliche Nennung erlaubt, halte ich für grotesk.

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